Bauen nur auf versiegelten Flächen?

Autor: Dr. Martin Rumberg

Städtebauliche Entwicklung nur auf schon versiegelten Flächen - ein guter Kompromiss?

Vordergründig ist die Sache klar: Bei versiegelten Flächen ist der natürliche Boden bereits durch Bauwerke ober- oder unterhalb der Erdoberfläche bedeckt und damit für Wasser, Luft und Licht versperrt. Die negativen ökologischen Folgen der Versiegelung, z. B. für den Wasserhaushalt, das Kleinklima und die Flora und Fauna, sind bereits eingetreten. Es scheint also nahezuliegen, dass hier kein zusätzlicher Schaden entstehen kann und im Gegenzug unversiegelte Flächen unbedingt zu schonen sind.

Diese Sicht ist aber in jeder Hinsicht vordergründig. Die ökologischen Folgen von Versiegelung lassen sich nur in einem größeren räumlichen und inhaltlichen Zusammenhang bewerten. Zum Beispiel kommt es bei der Bewertung der Auswirkungen auf das Grundwasser auch auf die Großflächigkeit der Versiegelung, die Tiefe der baulichen Anlagen im Boden und den Anteil tatsächlich versiegelter Flächen in einem Gebiet an, außerdem auf die Gegenmaßnahmen, die zum Ausgleich der Versiegelung ergriffen werden. Es ist also nicht ausreichend und auch nicht sinnvoll, die Versiegelung von Flächen für jeden Quadratmeter oder jedes Grundstück isoliert zu betrachten. Versiegelung ist auch nur ein Teilaspekt bei der Bewertung, ob eine Fläche „naturnah“ ist oder nicht. Hier kommt es ganz wesentlich auch auf die Intensität der Nutzung durch den Menschen, die Vegetation und den Grad der Zerschneidung durch Barrieren wie Wege und Zäune an.

Bei raumordnerischen und städtebaulichen Untersuchungen, aber auch in der amtlichen Flächenstatistik, wird der Raum daher nach ihrer Nutzung unterteilt. Mit Versiegelung verbunden sind dabei vor allem die Siedlungs- und die Verkehrsflächen. Immer wieder kommt es hier zu Missverständnissen: Die Siedlungs- und Verkehrsfläche ist nicht vollständig, sondern nur ungefähr zur Hälfte tatsächlich versiegelt. Größere vollversiegelte Flächen finden sich z. B. bei Industriegebieten und Straßen, aber auch geringer versiegelte Flächen wie locker bebaute Wohngebiete sind Siedlungsflächen. Aus gutem Grund zählen auch Kleingärten und urbanes Gartenland zur Siedlungsfläche: Auch dort wird der Boden- und Wasserhaushalt durch Versiegelung, vor allem in Form von Kleingebäuden, Terrassen und befestigten Wege, beeinträchtigt – wenn auch in geringerem Umfang als beispielsweise in typischen Gewerbegebieten. Auch dort werden die Flächen intensiv genutzt und sind zerschnitten.

Festzuhalten bleibt: Innerhalb der Siedlungsfläche gibt es keine klare Unterscheidung zwischen „versiegelten“ und „unversiegelten“ Gebieten, sondern die Grundstücke unterscheiden sich im Grad der Versiegelung, der bei Kleingärten um 10-20 % beginnt und bis zur Vollversiegelung bei bestimmten Gewerbe- und Industriegebieten reicht. 
 

Ein direkter Zusammenhang zwischen Versiegelungsgrad, Naturnähe und Intensität der baulichen Nutzung besteht dabei nicht: Viele vollversiegelte Grundstücke sind nur mäßig genutzt, und bauliche Nachverdichtung und Intensivierung der Nutzung geht in vielen Fällen in die Höhe und gibt nicht selten sogar kleinräumig versiegelte Fläche wieder frei.

 

Städtischer Flächenhaushalt: Dynamische Planung statt statischer Betrachtung

Städtebauliche Entwicklung auf „bereits versiegelte Flächen“ zu beschränken wäre, abgesehen von der schon beschriebenen Schwierigkeit des Begriffs an sich, auch ein echter Verlust an strategischen Handlungsmöglichkeiten in der Stadtentwicklung. Städte unterliegen einem permanenten Strukturwandel, der immer wieder bebaute Flächen brachfallen lässt, ebenso aber Bedarf für andere Nutzungen und auch neue Anforderungen an Flächen entstehen lässt. Ein statisches „Einfrieren“ des einmal entstandenen Versiegelungszustands wird dieser Dynamik nicht gerecht, und zwar individuell aus verschiedensten Gründen. Dies können städtebauliche Ziele genau so sein wie stadtklimatische Gründe: Häufig behindern heute massive Bestandsbebauungen die Frisch- und Kaltluftzufuhr, während klimatisch weniger bedeutsame Flächen unbebaut sind. Hier würde ein starres Festhalten an bereits versiegelten Flächen sogar Fehlentwicklungen zementieren.

Wäre es zum Beispiel richtig gewesen, Anfang der 2000er Jahre die fortschreitende Aufgabe der Industrie- und Hafennutzung entlang des Mains nicht für die Schaffung großer, öffentlich nutzbarer Grünflächen wie den Hafenpark zu nutzen? Das Argument „ist schon versiegelt“ hätte hier vielleicht für eine erneute gewerbliche Nutzung gesprochen, nicht aber eine differenzierte Betrachtung der Lage und der „Begabung“ dieser Flächen. Diese Betrachtung sprach damals wie heute eindeutig dafür, an dieser Stelle eine öffentlich gut nutzbare, gestalterisch markante und auch stadtklimatisch wirksame Erholungsfreifläche zu schaffen, die auch an der richtigen Stelle strategisch wichtige Frankfurter Freiflächen miteinander verbindet. Klar ist aber auch, dass solche Entwicklungen angesichts des anhaltenden Siedlungsdrucks und Einwohnerzuwachses in Frankfurt nicht ohne eine intensivere Nutzung anderer Flächen erreichbar sind. 
 

 

Es ist sehr willkürlich zu sagen: „Wo in Vorzeiten eine Fläche versiegelt wurde, darf das so bleiben, wo nicht, muss das so bleiben.“ Es spricht viel mehr dafür zu sagen: Innerhalb der vorhandenen Siedlungs- und Verkehrsfläche kommt es weniger auf den aktuellen Grad der Versiegelung einzelner Grundstücke als auf ein schlüssiges Gesamtkonzept für den künftigen Stadtraum an. Wichtige Überlegungen dabei sind unter anderem:

  • Welche Flächen eignen sich nach den aktuellen und künftigen Anforderungen am besten für eine Bebauung, und wenn ja, für welche? Kriterien hierfür sind z. B. die Lage zu vorhandenen Haltestellen des Öffentlichen Personennahverkehrs und zu anderen Einrichtungen, der Zuschnitt und die Größe der Fläche. 
  • Wo haben städtische Freiflächen den größten Nutzen? Wichtig hier z. B. das „Andocken“ an schon bestehende, hoch ausgelastete Freiflächen, die Schaffung von Verbindungen in einem öffentlich nutzbaren Freiflächensystem, aber auch stadtklimatische Gegebenheiten. 

 

Nachhaltige Entwicklung: Vermeiden – Vermindern – Ausgleichen

Das heißt nicht, dass die Nutzung bislang gering versiegelter Bereiche im Stadtraum gedankenlos erfolgen darf. Der in der nachhaltigen Entwicklung eingeführte Dreiklang aus Vermeiden, Vermindern und Ausgleichen gilt natürlich auch für die Flächenversiegelung. Das heißt hier konkret: 

  • Vermeiden: Wenn Boden versiegelt wird, dann muss dies möglichst flächeneffizient, also mit der höchsten städtebaulich angemessenen Verdichtung erfolgen, und in einer Lage, die möglichst wenige weitere Versiegelungen, z. B. für Verkehrswege, nach sich zieht. Dies muss zwangsläufig in einem regionalen Rahmen betrachtet und bilanziert werden. Nur so lässt sich Flächenfraß in größerem Maßstab eindämmen.
  • Vermindern: Versiegelung ist nicht gleich Versiegelung. Wenn sichergestellt wird, dass durch ein geeignetes Management Regenwasser möglichst vollständig vor Ort versickert wird, wenn Versiegelungen nicht großflächig erfolgen, sondern immer wieder durch Gärten, Grünzüge etc. aufgebrochen werden, wenn auf den Dächern Ersatzflächen für wegfallende Vegetation geschaffen werden, dann lassen sich negative Folgen vor Ort ganz deutlich mindern.  
  • Ausgleichen: Die naheliegendste Form des Ausgleichs ist das Entsiegeln an anderer Stelle. Wenn es gelingt, im Ausgleich für Versiegelungen gut gelegene Flächen zu entsiegeln, können Potentiale entstehen, die die Nachteile der Neuversiegelung weit überwiegen.

 


Zum Autor:
Dr. Martin Rumberg berät Kommunen, Verbände und Unternehmen zur Raum- und Stadtplanung. Er lehrt und forscht er zu den Themen Bauleitplanung und städtischer Umweltplanung am Lehrstuhl Stadtplanung der Technischen Universität Kaiserslautern.

Zurück 05.03.2021